Probelesen

Prolog und Kapitel 1 (Auszug)

Prolog

Der Hammer fuhr pfeilschnell herab und Jesus sah vom Kreuz aus schweigend zu. Schweiß rann ihm die Stirn hinab, als er immer und immer wieder auf die letzte Bodenplatte einschlug. Wie die Posaunen des letzten Gerichts dröhnte das Sommergewitter über der Kirche, sodass die Donnerschläge draußen den Klang des Frevels drinnen übertönten.

„Vergib mir meine Sünden, oh Herr“, entfuhr es seinem trockenen Rachen, als der Boden nachgab. Ein Loch öffnete sich und seine geröteten Augen erblickten die grobe Ziegelmauer der vor über einem Jahrhundert zugemauerten Gruft. Wie besessen buddelte er mit seinen bloßen Händen die lose Erde zur Seite, bis er genug Mauer freigelegt hatte, um sie mit seinen Füßen eintreten zu können. Einmal, zweimal, dreimal … Er hörte den Zement in den Fugen nachgeben und seine Schuhe traten ins Leere. Der Gestank von 100 Jahren Tod schlug ihm entgegen und eine tiefe Dunkelheit tat sich vor ihm auf. Nach so vielen Jahren des Wartens hatte er es endlich geschafft. Er leuchtete mit seiner Stirnlampe ins Dunkel. Die übereinander gestapelten Zinksärge reflektierten die Blitze, deren Licht durch die Kirchenfenster drang. Er ließ sich in die Gruft gleiten. Vor lauter Särgen fand er fast keinen Stand. Er hasste den Tod.

Er öffnete den ersten Sarg. Der Lichtstrahl fiel auf … nichts! Bis auf ein paar Knochenreste war der Sarg vollkommen leer. Er geriet in Panik. Er öffnete den nächsten Sarg und den nächsten. Nur Knochen. Er schrie auf und schlug wild auf die Särge ein. Der Staub der Toten erfüllte die Luft und das Scheppern des hohlen Zinks in der engen Gruft machte ihn fast taub. Dieser verdammte Abt hatte ihn belogen! Sein Herz pochte ihm bis zum Hals und er unterdrückte einen Aufschrei des Hasses. War das nun alles umsonst gewesen? War er wieder da, wo er angefangen hatte? Er leuchtete noch einmal hilfesuchend die Ecken und Wände der Gruft ab, aber außer dem Tod befand sich hier rein gar nichts. Verstört kroch er aus der Gruft, als plötzlich der Pastor vor ihm stand.

Kapitel 1: Nordsteimke

Die Scheinwerfer des dunkelgrauen Golfs erloschen vor der Kirche und tauchten die alten Gemäuer in tiefe Schatten. Alexander saß in der Stille seines Wagens, während die Erinnerungen an seine 35. Geburtstagsfeier in ihm nachhallten. Die Zeiten, in denen eine Party erst mit dem gemeinsamen Frühstück geendet hatte, waren längst vorbei. Jetzt lösten sich die Abende früh auf, da Verantwortung und familiäre Pflichten riefen.

Aber es hatte sich nicht nur das Feiern verändert – Alexander selbst hatte sich gewandelt. In seinem Innern war er immer noch der abenteuerlustige Junge von früher, doch nun, eingezwängt in eine Existenz voller Durchschnittlichkeit, spiegelte sein Leben das Dorf wider – beständig, unauffällig, aber voll unerzählter Geschichten. Während sein Blick über den zu einer modischen Wohnung umgebauten Pferdestall schweifte, in den er nach seiner letzten, wieder einmal gescheiterten Beziehung gezogen war, fühlte er sich von einer ironischen Wahrheit ergriffen. Er war zurückgekehrt, um von vorne zu beginnen, doch alles war wie immer.

Nordsteimke war ein Ort wie viele andere in Norddeutschland, dessen Geschichte bis zu den Kreuzzügen zurückreichte. Die uralte, 4000-jährige Grabstätte aus der Zeit der Pharaonen zeugte von einer längst vergangenen Ära. Nach dem Krieg hatten Flüchtlinge das Dorf mit ihren eigenen Händen neu erschaffen, und die Nähe zu Wolfsburg ließ es in den Jahren des Wirtschaftswunders weiterwachsen, umgeben von austauschbaren Neubausiedlungen, die das ursprüngliche Dorf, seine Geschichte und Geheimnisse umhüllten wie eine Zwiebel der Belanglosigkeit.

Die Bewohner von Nordsteimke wussten sich zu vergnügen. Das Dorf hatte ein aktives Vereinsleben mit Trachtenclub, imposantem Osterfeuer und freiwilliger Feuerwehr mit Löwenmut und strapazierten Leberwerten, einen Sportverein mit einer Altherren-Fußballmannschaft sowie eine Kirche mitten im Dorf, die dank des umtriebigen Pfarrers ein gesundes Gemeindeleben genoss. Doch alles schien sich hier auf der Oberfläche abzuspielen, ohne jemals den Mut aufzubringen, sich dem wahren Kern zu widmen.

Er ging in Gedanken seine neue Wohnung im umgebauten gräflichen Pferdestall durch.

„Alles, wirklich alles kommt von IKEA. Der Teppich, die Lampe, das Geschirr, das Sofa, sogar die Bilder – alles austauschbar“, dachte er resigniert. Wo war sie geblieben, seine Einzigartigkeit? Sein Leben hatte sich in vorhersehbare Bahnen gefügt. Er blickte an sich herunter: Sneakers, Jeans, Hemd – die Uniform seiner Generation. „Sei anders, finde dich selbst, schwimm gegen den Strom“, hatten sie gesagt. Und doch war er trotz harter Arbeit traumwandlerisch genau zu dem geworden, was er nie hatte sein wollen – Durchschnitt.

„Der Teufelskreis der Normalität“, ging es ihm durch den Kopf.

Selbst seine Unterwäsche und Socken ließ er sich nun liefern – „Bestseller, gewünscht von vielen“, entschied der Algorithmus für ihn. Quartal für Quartal erhielt er die gleichen grauen Socken und Unterhosen in Anthrazit, Blau und Schwarz.

Er fuhr sich mit der Hand durch sein Haar und rollte mit den Augen. Auch seine Frisur, die ewige „Wie immer?“-Frage beim Friseur, war Ausdruck dieser Monotonie. Wann hatte er sich zuletzt gegen den Strom entschieden?

Doch heute Nacht, während er die Heckklappe öffnete und einen Berg von Geschenken und Blumensträußen aus dem Kofferraum holte, hörte er etwas Unerwartetes – ein Geräusch, das nicht zum steten Trommelschlag der Eintönigkeit gehörte. Ein Geräusch, das die Monotonie des Dorfes und seines Lebens für immer durchbrechen sollte.

„Ein Hämmern? Ein Klirren?“ Alexander spitzte seine Ohren und kniff seine Augen zusammen.

„Woher kommt denn das Geräusch?“ Er drehte langsam seinen Kopf und versuchte, es mit seinen Ohren im Dunkeln zu orten. Als sein Blick auf die Umrisse der Kirche fiel, war das Geräusch am lautesten zu hören. Lautlos stellte er seine Geschenke auf den Boden, schloss sein Auto ab und ging langsam im Dunkeln auf das Poltern zu. Wie er es im Fernsehen gesehen hatte, ließ er die Spitze seines Autoschlüssels zwischen seine Fingerknöchel gleiten, um sich im Notfall verteidigen zu können. Langsam umrundete er die Kirche. Er ließ das Gemeindezentrum hinter sich und trat nun vor die Kirchentür.

„Da war es wieder! Da macht sich jemand in der Kirche zu schaffen!“ Alexanders Herz schlug schneller und seine Augen weiteten sich vor Furcht. Er presste sein Ohr an die alte hölzerne Eingangstür der Kirche. Das Geräusch war nun klar zu hören. Jemand hämmerte auf den steinernen Fußboden.

Seine Gedanken rasten. „Bevor ich die Polizei rufe, muss ich sehen, was drin vor sich geht“, dachte er. Der alte Wehrturm, der älteste Teil der 800 Jahre alten steinernen Kirche, hatte neben der wuchtigen Eingangstür nur alte Schießscharten in fünf Metern Höhe – die letzten, stummen Zeugnisse einer gewalttätigen Vergangenheit dieses einst wilden Landstrichs.

„Aber die Schießscharten sind zu hoch, um ohne Leiter durchzuschauen. Ich versuche es bei den Seitenfenstern des Kirchenschiffs.“

Alexander schlich zum Auto zurück und holte die Einkaufskiste, in die er die Geburtstagsgeschenke gepackt hatte. Ausgerüstet mit dieser provisorischen Leiter hastete er zum Kirchenschiff, stellte die Kiste vor das erste Fenster und drückte sein Gesicht gegen das trübe Glas. Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das steinerne Schwarz im Innern der Kirche zu gewöhnen. Durch das Milchglas konnte er im Dunkeln erst nur schemenhafte Schatten ausmachen. Aber auf einmal sah er in der Ecke des Kirchenschiffes den schwachen Strahl einer Lampe auf dem Boden auf und ab tanzen. Ein Blitz erhellte den Nachthimmel und tauchte plötzlich auch das Innere der Kirche in gleißend helles Licht. Für einen Bruchteil einer Sekunde sah er klar eine Gestalt in schwarzer Kleidung auf dem Steinfußboden kauern. Sie schien kein Gesicht zu haben und hatte, einem Höhlenforscher gleich, eine Stirnlampe um ihren Kopf geschnallt. Ein metallener Gegenstand blitzte in ihrer Hand auf und Alexander sah, wie dieser mit einem ohrenbetäubenden Geräusch die Steinplatte zum Bersten brachte. Mit einem Mal war alles wieder stockdunkel. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich erneut an die Dunkelheit zu gewöhnen. Als die Schemen klarer wurden, sah er, wie das schwache Licht plötzlich verschwand. Es war, als ob der Boden die dunkle Gestalt wie die Hölle den ewigen Sünder verschluckte.

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